2 | Die Alldeutigkeit des Punktes
Was verbindest du mit dem Punkt oben?
Aus meiner Sicht gibt es viele gute Gründe, bei der Beschreibung meines Weltbildes, beim Punkt anzufangen. Da wären zum einen die vielen Analogien: Nicht nur du und ich, das ganze Universum hat einmal Punkt-klein angefangen, jeder verbindende Strich hat einen Anfangspunkt, sogar zu jedem Fragezeichen gehört er. Und zu guter Letzt: ein jeder Gedankengang hat einen Ausgangspunkt – in diesem Fall nicht nur im übertragenen, sondern auch im buchstäblichen Sinn.
Doch da wäre noch eine andere, wichtigere Besonderheit, die diese Winzigkeit für das Weitere so wertvoll macht. Was wir heute als Punkt bezeichnen, ursprünglich aber nur einen Einstich benannte (lateinisch punctum), hat im Laufe der Geschichte ein beachtliches Bedeutungsspektrum erlangt. Im Wörterbuch lassen sich mehrere Definitionen unter dem Begriff finden:
Ein Fleck oder Tupfen, ein geometrisches Gebilde ohne Ausdehnung, ein Ort oder eine Stelle, ein bestimmter Moment sowie ein Stadium innerhalb einer Entwicklung, ein Absatz in einem Vortrag, ein Thema einer Sitzung und – Achtung! – einzelner Gegenstand der geistigen Auseinandersetzung innerhalb eines größeren Zusammenhangs.
Ist dir schon mal aufgefallen, wie viele unterschiedliche Punkte es inzwischen gibt? Da gibt es den Drehpunkt, Angelpunkt, Lagepunkt, Liegepunkt, Grenzpunkt, Schwachpunkt, toten Punkt, Blickpunkt, Auslassungspunkt, wunden Punkt, Themenpunkt, Kritikpunkt, Referenzpunkt, Aufzählungspunkt, Lichtpunkt, Schnittpunkt, Ausgangspunkt, Röstpunkt, Knackpunkt, Druckpunkt, Gefrierpunkt, Satzpunkt, Randpunkt, Reibungspunkt, Mittelpunkt, Hochpunkt, Tiefpunkt, Standpunkt, Knotenpunkt, Kontrapunkt, Pluspunkt, Minuspunkt, Kontrollpunkt, Stützpunkt, Treuepunkt, offenen Punkt, Berührungspunkt, Streitpunkt, Anklagepunkt, Siedepunkt, Gefahrenpunkt, Prozentpunkt, Quantenpunkt, Energiepunkt, Gabelpunkt, Rastpunkt, Ansatzpunkt, Haltepunkt, Akupunkturpunkt, G-Punkt, Kostenpunkt, Basispunkt, Mikropunkt, Makropunkt, Bruchpunkt, Zeitpunkt, Endpunkt, Abkürzungspunkt, Metapunkt, Schwerpunkt, Startpunkt, Bezugspunkt, Gesichtspunkt, Nebenpunkt, Unterpunkt, Hauptpunkt, Oberpunkt, Höhepunkt, Zielpunkt, Nullpunkt, Brennpunkt, Strafpunkt, Glanzpunkt, Eckpunkt, Sattelpunkt, Aussichtspunkt, Raumpunkt, Schlusspunkt, Wendepunkt, dunklen Punkt, springenden Punkt, Menüpunkt, Doppelpunkt, Dreifachpunkt, Vierfachpunkt und so weiter und so fort.....
Schaue ich mir all diese Unterbegriffe genauer an, fällt auf, dass etliche Bedeutungen sehr weit auseinanderliegen, mitunter so weit, dass ein Punkt sogar genau das Gegenteil eines anderen darstellt. Er kann zum Beispiel der Anfang und das Ende sein, klein und groß, untergeordnet und übergeordnet, dunkel und hell, positiv wie negativ.
Er ist nicht nur ein Zeichen oder ein Symbol – der Punkt hat sich im Laufe der Zeit zu einer Art Allzweck- oder Universalbegriff entwickelt. Nicht „eindeutig“, „zweideutig“ oder „doppeldeutig“, selbst die Adjektive „mehrdeutig“ und „vieldeutig“ reichen nicht annähernd aus, um diesem Phänomen gerecht zu werden. In einer Planung, in einem Gespräch, in einem Gedankengang, in einem Kunstwerk – oder was auch immer – darf ein Punkt symbolisch für alles Erdenkliche stehen, auch für alles zusammen oder das Nichts. Hinter einem übergeordneten Punkt kann sich sogar sein Antonym „Strich“ verbergen, der mehrere untergeordnete Punkte, die miteinander verbunden sind, zusammenfasst, wie z.B. Zeitpunkte auf der Zeitleiste eines Monats. Der Punkt verdient somit das Attribut „alldeutig“.
Und warum ist diese Eigenschaft für mich so wertvoll?
Wie es bei dem Vorhaben, ein Bild von dir zu malen, von Vorteil wäre, alle dafür notwendigen Utensilien beisammenzuhaben, ist es bei dem Versuch, sich ein Teilbild vom „Großen Ganzen“ zu machen, ebenso hilfreich, in der Vorstellung Etwas zur Verfügung zu haben, mit dem man alles darstellen und miteinander verbinden kann. Wie könnte man schneller zu dem Strich gelangen, der in einem Zug Einzelnes zu einem Ganzen verbindet, wenn nicht über den Punkt?
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